von Marcus Weiand, Oktober 2020
Im Dialog bleiben
„Ich bring sie um! Morgen bringe ich sie um!“ So endet Loriots bekanntes Stück, in dem sich ein Ehepaar am Frühstückstisch über die Härte des Frühstückeis in die Haare bekommt. Manche Gespräche gehen einfach tüchtig daneben.
Wie kommt es dazu, dass Gespräche so katastrophal enden? Wenn ich die Dialoge meiner Kinder in den letzten Jahren revuepassieren lasse, muss ich schon schmunzeln. Als sie noch kleiner waren, ging es manchmal einfach darum, wer einen bestimmten Teller oder Becher bekommt oder wer irgendetwas als erster darf. Die Kinder fühlten sich als Zentrum des Universums, und wehe, das Universum verhielt sich nicht entsprechend.
Ich ertappe mich manchmal selbst, wie ich in einem Gespräch unbedingt Recht haben will. Ich merke erst hinterher, wie sehr diese Rechthaberei den Streitereien meiner Kinder ähnelt, über die ich stöhne und die Augen verdrehe. Dabei können das durchaus wichtige Themen sein – wie sie ja auch für meine Kinder wichtig waren.
Ins Gespräch über wichtige Themen zu kommen ist nur dann einfach, wenn man einigermaßen der gleichen Meinung ist. Sobald es unterschiedliche Ansätze gibt, wird es spannend. Wer sich Gemeindeversammlungen einer x-beliebigen Gemeinde anschaut, kann das von Zeit zu Zeit erleben: Verhärtete Fronten, nichts scheint mehr zu gehen. Und dann wird tief in die psychologische Trickkiste gegriffen, selbst von Leuten, die nichts mit „Psychologie“ zu tun haben wollen. Hier eine kleine Auswahl:
Jemand benutzt Verallgemeinerungen („Das ist immer dasselbe…“; „Viele andere denken da genauso wie ich … ) und Oberhandtechniken – um die Oberhand zu behalten – mit Sätzen, die jedes weitere Gespräch ersticken („Wir wissen doch alle, dass so etwas nichts bringt …).
Jemand schweigt und lächelt süffisant, um Überlegenheit zu zeigen.
Jemand benutzt verdeckt abwertende Botschaften („Wer hier mal nachdenkt, der müsste eigentlich zu dem Schluss kommen …“; „Wenn du dir etwas Mühe geben würdest, dann …“; „Wenn ihr euch sorgfältig vorbereitet hättet, dann …“).
Jemand will die eigene Überlegenheit dadurch zeigen, dass er oder sie zu spät kommt, mehr Redezeit für sich in Anspruch nimmt als ihm oder ihr zusteht, durch rhetorisch Brillanz beeindrucken will, oder dadurch, dass jemand jedes Mal souverän die Kommunikationsregeln verletzt (wie ausreden lassen, von eigenen Eindrücken reden, etc.).
Jemand wechselt von der Sachebene auf die Beziehungsebene („Es gibt ja noch mehr Leute, mit denen ihr im Streit liegt …).
All dies dient dazu, sich selbst einen Vorsprung zu verschaffen und die eigenen Gewinnchancen zu vergrößern. Ich vermute, dass jeder und jede ab und zu mal solch ein kommunikatives Foul einsetzt. Letztendlich verhindert diese Art von Foulspiel aber kreative und gute Lösungen.
Paulus weiß, wie schwierig es zwischen Menschen manchmal sein kann. Er empfiehlt: „Handelt nicht aus Selbstsucht oder Eitelkeit! Seid bescheiden und achtet den Bruder oder die Schwester mehr als euch selbst. Denkt nicht an euren eigenen Vorteil, sondern an den der anderen, jeder und jede von euch!“ Phil 2,3-4.
Das sind krasse Worte. Am liebsten würde ich sie zu den „unverständlichen und anstößigen Worten der Bibel“ zählen, vor denen wir den „Hut ziehen und vorübergehen“ (so M. Luther zu schwierigen Passagen der Bibel). Doch ich fürchte, dass dieser Abschnitt sehr gut zu verstehen ist. Und ich fürchte, dass durch diese Haltung meine Felle davon schwimmen. Wie soll man so der Dummheit der Anderen Einhalt gebieten?
Paulus ist sich sicher, dass nur so das Zusammenleben gelingen kann. Wenn eine Gemeinde sich in dieser gegenseitigen Achtung begegnet, kann auch gut über schwierige Dinge gesprochen werden. Es geht dann nicht mehr um mein Interesse, sondern um den besten Weg für die gesamte Gemeinde. Auch die Sozialpsychologie ist überzeugt, dass die besten Entscheidungen dann entstehen, wenn eine Gruppe entschlossen ist, die beste Lösung für die ganze Gruppe zu finden (Aronson et al., Social Psychology, 2013). Gemeindedialoge, die so funktionieren, haben Zukunft.
Lisa Schirch und David Camp (The Little Book of Dialogue for Difficult Supjects. A Practical Hands On Guide, 2007, 6) definieren einen Dialog als einen Kommunikationsprozess, der darauf zielt, Beziehungen zu bauen, indem sie Erfahrungen, Ideen und Informationen zu einem Thema austauschen, das alle beschäftigt. Darüber hinaus hilft ein Dialog, dass eine Gruppe mehr Informationen und Perspektiven erlangt, indem sie nach einem tieferen Verständnis für das Thema sucht.
Ein guter Dialog stärkt also Beziehungen, nutzt die Ideen und Sichtweisen aller und sieht dies nicht als Bedrohung für die eigene Meinung an. Ein Gemeindegespräch, also ein Gemeindedialog wird so zu einem kreativen Prozess.
Solch ein Dialog ist sehr einfach mit Menschen, die wir mögen. Wir legen nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Wir sind vom gegenseitigen Wohlwollen überzeugt.
Wie kann ein Dialog aber gelingen, wenn das gegenseitige Misstrauen schon groß ist und die eigenen Sorgen die Beziehungen stark belasten? Je sorgenvoller wir sind, desto weniger schaffen wir es ja, für andere Verständnis zu haben. Die andere Person höher als mich selbst zu sehen, verschwindet dann gänzlich im Reich der Utopie.
Der Konfliktforscher Friedrich Glasl entwickelte ein Modell verschiedener Eskalationsstufen von Konflikten. Kleine Konflikte lösen die Beteiligten leicht selbst. Je schwerer die Konflikte werden, desto weniger ist es den beteiligten möglich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Zu verstrickt sind sie. Verletzungen, Sorgen und Ängste verhindern es tatsächlich, dass intelligente Menschen kreative und gute Lösungen entwickeln. Der Neurobiologe Gerald Hüther spricht in diesem Zusammenhang davon, dass wir keinen guten Zugang mehr zu unseren rationalen Gehirnregionen haben. Stattdessen werden die Bereiche des Gehirns aktiviert, die stärker nach dem Kampf- oder Flucht-Muster funktionieren. Eine Gemeinde in der Konflikte das Gespräch bestimmen, hat also auch neurobiologisch ein Problem. Selbst dann, wenn jede Partei sich Gottes Beistand sicher ist.
Das klingt jetzt ziemlich hoffnungslos. Dann können wir ja gar nicht anders, als uns zu bekämpfen oder aus der Gemeinde auszutreten!
Zwei Dinge sind hier besonders wichtig: 1. Die Selbstführung und 2. Hilfe beim Dialog. Dadurch wird ein Konflikt deeskaliert – man kommt die Konflikttreppe wieder ein paar Stufen herunter.
Selbstführung bedeutet, sein eigenes Verhalten einmal unter die Lupe zu nehmen. Das kann z. B. durch eine andere Person geschehen, die man schätzt, von der man aber weiß, dass sie einem nicht nach dem Mund redet. Selbstführung bedeutet auch, zu überlegen, ob ich mich noch nach meinen Grundwerten verhalte – z. B. wenn mir die Nachfolge Jesu wichtig ist – bin ich in meinem Verhalten noch auf der Spur? Oder bin ich gerade dabei in der Hitze des Gefechts einige meiner Grundüberzeugungen zu Opfern? Meine Reaktionen auf den Abschnitt des Paulus können ein wichtiges Indiz sein.
Hilfe beim Dialog, z. B. durch eine unabhängige Moderation, kann die Anspannung in einer Gruppe deutlich senken. Wenn jeder und jede sicher ist, dass er oder sie nicht übergangen wird, kann ein neuer, kreativer Prozess entstehen. Es entsteht Raum für neue Begegnungen. Ein entspanntes Gehirn sieht nicht mehr nur schwarz oder weiß, gut oder böse.
In einer Gemeinde zusammenzuleben macht das Gespräch, den Dialog unerlässlich. Es gibt Möglichkeiten, diesen Dialog so zu gestalten, dass selbst schwierige Themen beziehungsfördernd und kreativ gehandhabt werden. Es ist keine Schande, wenn ein Dialog auch mal misslingt und in eine Sackgasse gerät. Traurig wäre, wenn eine Gruppe nichts dagegen unternimmt. Wenn jeder in der eigenen Verletzung bleibt und sich als Opfer der Uneinsichtigkeit Anderer sieht.
Gibt es Gespräche, die hoffnungslos sind? Nach Glasl gibt es Eskalationsstufen, die eine Trennung der Konfliktparteien notwendig machen. Manchmal sind Dinge vorgefallen, die einen längeren Heilungsprozess notwendig machen. Manchmal gibt es Einzelne, die nicht an einem Dialog interessiert sind. Dann ist es wichtig, die Grundsätze des Gesprächs durchzusetzen, die sich eine Gemeinde gegeben hat und denen Grenzen zu setzen, die sich über alle Abmachungen setzen wollen. Manchmal ist es notwendig, einen Konflikt zwischen Einzelnen zuerst anzugehen, z. B. mit einem Mediationsgespräch, so dass der Konflikt nicht auf großer Bühne ausgetragen wird.
Für Zeiten, in denen das Gespräch in der Gemeinde anstrengend wird, sagt Jesus „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt. 18,20). Das kann uns Mut machen, auch in schwierige Dialoge einzusteigen.
Von Marcus Weiand