Im Ausnahmezustand

von Marcus Weiand, 19. März 2020

Es war noch in den ersten Tagen, nachdem das Virus in der Schweiz und in Deutschland auftauchte. Ich war in einem Gottesdienst. Psalm 91 wird vorgelesen: 

Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, 

der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe. 

Denn er errettet dich vom Strick des Jägers und von der verderblichen Pest. … Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird sich deinem Hause nahen. 

Ich stocke innerlich. Merke, wie dieser Mut machende Psalm mich irritiert. Welche Schlüsse soll ich aus diesem Psalm ziehen? Es fällt mir ja schwer es einzugestehen, aber ich mache mir wirklich Sorgen. Jeden Tag neue beunruhigende Nachrichten. Ich will natürlich keine Hamsterkäufe tätigen, wie andere Leute, die total in Panik verfallen. Tsss. Ich mache mir eine gedankliche Notiz, einfach mal ein paar Packungen Spaghetti mehr zu kaufen. Und Klopapier. Und Desinfektionsmittel. Klopapier gab es dann noch. Die anderen Sachen waren ausverkauft. Diese unverschämten Panikkäufer!

Ich muss mit dem Zug nach Zürich. Ob das gut geht? Ich schlafe schlecht. Alles lief gut. Niemand hat mich angehustet. Die emotionale Dunstglocke über mir bleibt.

Wenn ich zum Thema „Umgang mit Konflikten“ unterrichte, brauche ich häufig ein Bild, das der Neurobiologe Gerald Hüther geprägt hat: Unter Stress (Angst und Sorgen sind Stress) ist es so, als ob wir in unserem Gehirn in einen Fahrstuhl steigen würden und uns von unserer rationalen „Etage“ verabschieden und in den Keller fahren, wo es eng und dunkel ist. Sehr vereinfacht gesagt: Wir verlassen die hochvernetzten Bereiche unseres Gehirns und benutzen nur noch die ganz groben Strukturen. Statt feine Abwägungen machen zu können, verfallen wir in ein Schwarz-Weiss-Denken, wo Dinge gut oder böse sind, dazwischen gibt es nichts. 

Offensichtlich stehe ich gerade in diesem Fahrstuhl. Ich bin noch etwas unentschlossen, wie tief ich fahre…

Gerald Hüther ist überzeugt, dass das einzige Mittel, um wieder „zu Verstand“ zu kommen darin besteht, den Druck wegzunehmen. 

Gut, Corona „wegzunehmen“, das versucht zwar alle Welt, hilft mir aber gerade nicht weiter. Im Radio sagt ein Psychologe, dass es im Stress hilft, mit den Fusszehen zu wackeln. Das hat was. Man konzentriert sich nicht mehr auf die eigenen Ängste. 

Und dann ist da Psalm 91. 

Ich wache eines Nachts auf und merke, wie sich Unruhe in mir breitmacht. Die ersten Verse von Psalm 91 kommen mir in den Sinn. Ich bete sie. Und ich erinnere mich, wie oft sie mich schon getragen haben. Denn in meinem Leben gab es natürlich schon öfters Situationen, die mir sehr zu schaffen gemacht hatten. 

Herr, meine Zuversicht und meine Burg.

Dann fällt mir ein, dass Jesus sagte: Sorgt euch nicht, ich sorge für euch. Euer himmlischer Vater weiss, was ihr braucht (Mt. 6,25ff).

Doch dann kommt der Zweifel. Was, wenn alles im Chaos endet? Was, wenn Gott sich nicht als Burg erweist?

Ich stehe wieder einmal am Scheidepunkt. Ich muss gestehen, das ist nicht das erste Mal. Am Scheidepunkt, mich zu entscheiden, ob ich Gott mein Leben anvertraue, oder ob ich doch lieber mich selbst darum kümmere. Ob ich Gott glaube, dass seine Liebe gut für mich ist und nichts und niemand mich davon wegreissen kann, oder ob ich auf all das Leid in der Welt blicke und sage: Gott überzeugt mich nicht. Diese Entscheidung ist nicht trivial. Ich weiss, dass ich manchmal laut gebetet habe: „Herr, ich vertraue dir!“, aber mich dann doch so verhalten habe, als gäbe es keinen Gott. Im Laufe meines Lebens ist es mir deswegen wichtig geworden, auch als Pastor und Theologe immer mal wieder meine Sorgen und Zweifel ernst zu nehmen und auf den Punkt zu bringen: „Was nun, mit Gott, oder ohne?“

Diesmal entscheide ich mich für Gott. Ihm zu vertrauen. 

Ich entscheide mich, dass Jesus mein Halt ist. Mein Kollege Bernhard Ott schreibt in seinem Buch „Tänzer und Stolperer – Wie die Bergpredigt unseren Charakter formt“: „Wenn der Mensch wieder seinen Halt in Gott findet, können sich Haltungen entfalten, die zu neuem Verhalten führen, so dass sich schlussendlich Verhältnisse auch zum Guten verändern (S. 184). 

Herr, meine Zuversicht und meine Burg – ich merke, wie ich im „Fahrstuhl“ wieder nach oben fahre. 

Also, liebe Mitnachfolger von Jesus: Wenn Gott unser Halt ist, werden wir uns nicht um Lebensmittel und Toilettenpapier prügeln. Wir werden uns gegen Panikmache und Verschwörungstheorien stellen. Wir werden darauf bedacht sein, Gutes für die Gesellschaft zu tun und uns deswegen einbringen, wo nötig. Wir werden Empfehlungen zur Eindämmung befolgen. Wir lassen uns nicht in eine Angstspirale ziehen. Denn wir wissen: Unser Leben ist in Gottes Hand – sogar die ganze Welt ist in Gottes Hand!

Da fällt mir ein: Das ältere Ehepaar von gegenüber wird möglicherweise bald sehr praktische Hilfe brauchen. Sie gehören zur Risikogruppe. Mir fallen weitere Menschen um mich herum auf. Ich bin wohl wieder auf der oberen „Etage“ angelangt. Die Versuchung, wieder in den Fahrstuhl nach unten zu steigen ist gross. Wenn das passiert, wackle ich mit den Zehen ;-) und gehe dann zu der Quelle, die für mich frisches Wasser bedeutet:

Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt,  der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.