Seit Jahren bin ich im Gespräch mit vielen Menschen, die auf der einen oder anderen Weise mit Musik und mit Gottesdienstgestaltung beschäftigt sind. Täglich erreichen mich zahlreiche Seminarhinweise und Lesetipps zum Thema Lobpreismusik. Kein Wunder, denn Musik ist für jede Gemeinde heutzutage ein wesentliches Thema.
Dabei stelle ich fest, dass es in diesen Diskussionen zur Musik im Gottesdienst zum größten Teil ständig um das Know-how geht. Welcher Musikstil ist der geeignete? Wieviel Musik? Welche Lieder wählen wir? Welche Instrumente? Wie bauen wir Musik im Gottesdienst ein? Eher „lobpreismäßig“ oder „liturgisch-klassisch“? Beamer oder Gesangbuch? Usw.
Diese Fragen sind wichtig und spannend, doch zu oft kommt man damit nicht an den Kern der Sache. Erst wenn wir über die Rolle des Gottesdienstes und dementsprechend über das WARUM und WOZU der Musik im Gottesdienst nachdenken, können wir sinnvoll über Form und Praxis reden (Dieses Prinzip sollte übrigens für alle gottesdienstlichen Handlungen gelten).
Was SOLL Musik im Gottesdienst leisten?
Musik hat eine faszinierende Wirkung, die von unterschiedlicher Stilistik ausgeht. Schon Martin Luther hat die Musik als „mächtige Regentin des menschlichen Herzens“ bezeichnet. Doch was geschieht eigentlich im Gottesdienst, wenn wir Musik machen und singen? Was erwarten wir? Worum soll es bei der Musik eigentlich gehen?
Man kann es gut in den Begriffen Bubmans beschreiben, wie Martin Nicol[1] es macht: Gottesdienstliche Musik entfaltet sich in der Polarität zwischen „Himmelsklang“ und „Lebenston“. Man könnte auch sagen, die Funktion der Musik besteht im Aushalten und Gestalten eines Spannungsfeldes, das ich hier kurz skizzieren möchte.
MUSIK ALS HIMMELSKLANG
(Kurze Zwischenbemerkung: schon während ich das folgende Kapitel schreibe, merke ich, dass meine eher kopflastige Frömmigkeitsprägung hier herausgefordert wird. Und das ist ok, denn ich möchte gerne von anderen Traditionen und Sichtweisen lernen, wo das dem Wachsen in der Erkenntnis und in der Einheit dient. Der Musiker in mir hat jedoch keine Mühe, die Musik wie folgt einzuordnen, denn er kennt es aus eigener Wahrnehmung)
Musik hat etwas Mystisches. Nicol nennt es „Offenbarungspotential des Göttlichen“. Musik ist sozusagen himmelsnah. Ein fremder Klang, ein kurioses Musikstück oder ein überwältigend emotionales Musikerlebnis kann ein neues Fenster am Horizont öffnen. Der Musik wohnt eine transzendente (Ur-)Kraft inne. In einem Artikel der Zeitschrift GEO schreibt Johanna Romberg[2] über das Singen: „Jubel, Klage, Gebet, Feier, Beschwörung: Die Anlässe, die Stimmen zu erheben, sind so vielfältig wie die Lieder der Völker. Eines jedoch eint dabei Menschen aller Kulturen: die Überzeugung, dass Gesang eine Verbindung zu höheren Mächten schafft“.
Auch in der Bibel erscheinen Musik und Musikinstrumente als besonders geeignete Mittel zur Vergegenwärtigung Gottes. Im übermenschlich-lautem Klang des Schofars (großes, antikes Naturhorn) sieht das Volk Israel im Alten Testament die Herrlichkeit Gottes aufkommen (Ex 19, 16). Dieser Klang ist offenbar so übermächtig, dass er eine kosmische Resonanz zu erzeugen vermag.
Musik hat in allen Völkern von Anfang an eine transzendente und spirituelle Dimension. Dieses Phänomen lässt sich erst recht wieder in unseren post-aufklärerischen Zeiten beobachten. Vielen Menschen unserer Zeit geht es im Glauben nicht so sehr um ein „für Wahr halten“, als um eine Sehnsucht nach spirituellen Erfahrungen. Hier knüpft die charismatische Lobpreispraxis an, die selbstbewusst auf ein intensives, „übernatürliches“ Musikerlebnis im Gottesdienst setzt. Tief gestützt von atmosphärischen Klängen und gefühlsstarken Arrangements wird in Liedtexten und Moderation das Erlebnis der Gegenwart Gottes besungen und beschrieben. In anderen Worten: man singt über das Gotteserlebnis im Singen.
Der Musikstil „Worship“ bleibt trotz stetiger Weiterentwicklung klar erkennbar und hat seine eigenen musikalischen Spielregeln. Man weiß in der Szene inzwischen was „funktioniert“ und was nicht, weil man genau weiß wohin man möchte. Dieser Vorgang ist meines Erachtens legitim, denn schließlich will ein Prediger auch seine rhetorischen Kompetenzen einsetzen, und eine Bibellehrerin auch ihre pädagogischen Erfahrungen. Genauso gehören zur Kunst der Musik auch handwerkliche Kompetenzen, mit den genrespezifischen „Tipps und Tricks“. Musikalisch kann man das lernen.
Als jüngstes Beispiel für eine starke Fokussierung dieser „himmlischen“ Dimension kann hier die neue Outbreakband CD mit dem vielsagenden Titel „Atmosphäre“[3] erwähnt werden. Hauptsänger Juri Friesen schreibt zum Release ihrer CD: „Wir wünschen uns, dass die Hörer der neuen Songs schon beim ersten Anhören sagen: Damit kann ich Gott begegnen.“
Musik kann das Geheimnis und die Schönheit Gottes umspielen. Musik gibt menschlichem Ausdruck einen geistlichen Resonanzraum. Die Theologie sollte diese Erfahrungsdimension nicht übergehen. Hierbei muss jedoch darauf geachtet werden, dass dieser Lobpreismodus nicht einen religiösen Mechanismus suggeriert, als müsse man Gottes Gegenwart und Handeln herbeisingen.
Musik als Lebenston
Andererseits hat Musik etwas sehr irdisches, lebensnahes und menschliches. Musik ist ein Geschenk des Himmels an die Schöpfung. Eine universale Sprache, die uns als Mittel zur Expression unserer Menschlichkeit in die Wiege gelegt wurde. Einzelne Menschen und ganze Kulturen artikulieren in ihrer Musik das ganz eigene Lebensgefühl. Sie singen aus vollem Hals und Herzen, weil das die eigene Identität und Zugehörigkeit zum Ausdruck bringt und stärkt. In Musik kommt die ganze Schönheit, die Vielfalt, aber auch die Zerrissenheit, der Schmerz und die Sehnsucht der Schöpfung zum Ausdruck.
Diese Dimension gilt es in der gottesdienstlichen Musik zu integrieren und zu würdigen, damit sich unsere Lebenswahrnehmung nicht in einen „geistlichen“ und einen „natürlichen“ Bereich trennen muss. Ein christliches Weltbild ist integrativ. Auch im Natürlichen wohnt der Himmel, und die Musik bringt Sichtbares und Unsichtbares in diese eine Wirklichkeit wunderschön zusammen.
RAUS aus der Komfort-Zone
Musik „bleibt eine Spannung von Vertrautheit und Fremdheit, von Offenbarung und Verborgenheit“ (Nicol).
Und oft leiden Kirchen und Gemeinden an diesem Spannungsfeld. Besonders die, die versuchen, aus der Mitte heraus beide Pole zusammenzuhalten.
Für manche Gemeinden ist es dran, die eigene Komfort-Zone etwas zu verlassen, und stärker eine gesunde Integration der „spirituellen“ Qualität der Musik in die gottesdienstliche Praxis zu suchen. Zum Wachstum gehört eben auch Mut und Experimentierfreude. Für manch andere Gemeinden wird es wiederum wichtig, dass sie bei aller Fokussierung auf emotionsreiche Erlebnisse im Gottesdienst auch realitätsbezogen und lebensnah bleiben.
Vielleicht kann folgende Grundüberzeugung des Quäkers William Penn (1644-1718) hier als gutes Kriterium aushelfen: „Wahre Frömmigkeit treibt die Menschen nicht aus der Welt, sondern hilft ihnen, besser in ihr zu leben, und fördert ihr Bestreben, sie zu verbessern.“
Dennis Thielmann, Januar 2018
[1] Martin Nicol, Weg im Geheimnis: Plädoyer für den Evangelischen Gottesdienst. Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen 2010, S. 182
[2] GEO-Magazin 03/07 “Glückserlebnis Singen”
[3] Erschienen bei Gerth Medien: https://www.gerth.de/index.php?id=details&sku=946472