Oder: Im Schlamm Christus getroffen
Stuart Murray und Juliet Kilpin sind Gemeindegründer und leiten das urban expression network in Grossbritannien. Das GemSem «Grenzen überschreiten» auf dem Bienenberg vermittelte den Teilnehmenden Perspektiven und Beispiele für eine «inkarnatorische Mission»: Jesus, die Botschaft von Gottes Heil, Gerechtigkeit und Frieden verkörpern im Da-Sein für Menschen. Im Folgenden ein Auszug aus ihrer zweiteiligen Predigt, die das Seminar abrundete, gehalten in der Schänzli-Gemeinde.
Stuart Murray:
„Wir sollten endlich damit aufhören, Heilige sein zu wollen und lieber anfangen zu versuchen, ganz Mensch zu sein.“ (Zitiert nach Dietrich Bonhoeffer). Ganz Mensch zu sein – Ist es das, was Jesus gemeint hat, als er vom Leben in Fülle sprach? Wenn Jesus der einzig wahre Mensch war, dann bedeutet die Nachfolge Jesu, dass wir selbst ganz Mensch werden. In unserer Kultur gibt es sehr viele entmenschlichende Aspekte, und unsere Kultur hat viel mehr Einfluss auf uns, als uns vielleicht klar ist. Um ganz Mensch zu werden, müssen wir bestimmten Einflüssen widerstehen. Mancher Sprachgebrauch entmenschlicht Menschen. Ein „Kollateralschaden“ bedeutet nichts anderes als dass Menschen getötet werden. Wir werden als Verbraucher beschrieben; was uns also ausmacht, ist unser ökonomischer Wert. Menschen, die derzeit auf unserem ganzen Kontinent Zuflucht suchen, hat der britische Premierminister als „Schwarm von Migranten“ bezeichnet. Viele versuchen, Ängste zu schüren und diese zu instrumentalisieren. Deshalb gilt es, aktiv den entmenschlichenden Einflüssen in unserer Kultur zu widerstehen. Dafür brauchen wir einander.
Eine der zentralen Fragen ist deshalb, was es bedeutet, Jesus, dem wahren Menschen, nachzufolgen. Lassen wir uns beeinflussen von seiner Geschichte. Erinnern wir uns gegenseitig an sie, feiern wir sie in unseren Gottesdiensten, finden wir miteinander heraus, welche Auswirkung sie auf unsere Nachfolge hat. Sprechen wir einander darauf an, um uns gegenseitig zu helfen, den Werten der Jesus-Geschichte entsprechend zu leben. Und lernen wir, miteinander zu erkennen was in unserer Kultur eigentlich abgeht und was ihre Götzen sind. Im Neuen Testament ist die Rede von „Mächten und Gewalten“, den verborgenen Mächten, die auch unsere Kultur formen. Aber in der Gemeinde werden diesen Mächten die Masken abgenommen, und es wird eine andere Geschichte erzählt. Das ist die prophetische Rolle der Gemeinde. Unsere Aufgabe ist es, Gemeinschaften zu werden die stören und widerstehen. Deshalb ist es wichtig, eine andere Geschichte zu erzählen, wenn wir zusammen kommen. Eine Geschichte, die unsere Fantasie anregt, unsere Reflexe verändert, die uns hilft, „Gewohnheiten des Herzens“ zu entwickeln, so dass wir als Gemeinschaften unserer Kultur etwas entgegenzusetzen haben.
Juliet Kilpin:
Wie können wir den radikalen Jesus wieder entdecken und wie können unsere Herzen und unsere Fantasie ganz neue Haltungen und Reflexe einüben? Stuart hat vorgeschlagen, dass wir eine neue Begegnung den mit Geschichten des Evangeliums brauchen. Eine weitere Möglichkeit, das zu tun ist, Beispiele von Menschen wahrzunehmen, die schon versuchen, danach zu leben. Sie können uns dazu bringen, unsere eigenen Einstellungen und Reflexe zu hinterfragen. Solche Vorbilder lassen sich am besten finden, wenn wir unter der Oberfläche graben und uns in die Randbereiche begeben. Dahin, wo die entmenschlichenden Mächte und Gewalten wirklich am Werk sind. Und auf unserem Kontinent finden sich viele solche Plätze.
In einem illegalen Flüchtlingslager in Calais in Frankreich arbeite ich zeitweise gemeinsam mit anderen Freiwilligen an einem Frieden-stiften-Projekt. Das Lager dort mit derzeit etwa 4000 Flüchtlingen ist teilweise eine humanitäre Katastrophe und so etwas wie ein Slum. Ein rechtliches Niemandsland, das niemanden und allen gehört. An diesem Ort, der oft einer Hölle gleicht, habe ich Christus getroffen.
Adil, aus seiner afrikanischen Heimat geflohen um sein Leben zu retten, ist in diesem Flüchtlingslager in Calais gelandet. Wie viele könnte er sich einfach nur um sich selbst kümmern. Er aber ist einer der Freiwilligen, die sich täglich darum bemühen, für andere Flüchtlinge zu sorgen. Ihm war das entwürdigende Anstehen um Essen und Kleidung an endlos langen Schlangen aufgefallen, und so kam er auf die Idee, einen kleineren Verteilerposten einzurichten. Dort gibt es jetzt zum Beispiel an einem Tag Essen, am nächsten Kleidung, ein anderes Mal Schlafsäcke oder Schuhe. Im Flüchtlingslager werden viele Schuhe gebraucht, weil es dort so nass und matschig ist. Oder weil man in der Stadt war und dort die Polizei einem die Schuhe weggenommen hat. Eines Tages – es hatte viel geregnet und alles versank in Schlamm und Matsch – standen 30 oder 40 Leute aus verschiedenen Nationen an Adils Verteilerposten um zu sehen, was er anzubieten hatte. Es ging entspannt zu,bis ein junger, ziemlich aufgeregter Afghane ankam und rief: „Ich brauche Schuhe!“ Adil, ein sehr freundlicher Mensch, schaute den Mann an und sagte „Mein Freund, ich habe keine Schuhe“. Es war nicht der Tag für Schuhe. Es war der Tag für Lebensmittel. Unbeirrt bestand der Mann aber darauf: „Ich brauche Schuhe“. Ruhig fasste Adil ihn an der Schulter und wiederholte „Mein Freund, ich habe keine Schuhe“. Fieberhaft entgegnete der „Aber ich brauche unbedingt Schuhe!!“. Da bückte sich Adil hinunter, zog im Schlamm seine eigenen Schuhe aus und gab sie dem Afghanen. «Ich will nicht deine Schuhe, ich will einfach nur Schuhe!» Wieder schaute Adil ihm freundlich in die Augen und antwortete bestimmt: „Mein Bruder, ich habe keine Schuhe“.
Beim Beobachten dieser Szene liefen mir die Tränen über das Gesicht. Mein Mitarbeiter, auch Christ, und ich sahen uns wortlos an und wussten beide, welche biblische Erzählung von Jesus wir miterlebt hatten. Uns schwirrte der Kopf als wir weitergingen, denn: Adil ist Muslim. Aber an ihm habe ich das Christus ähnlichste Verhalten erlebt, das mir je begegnet ist. Und ich habe dadurch viel besser verstanden was es bedeutet, ganz Mensch zu sein. In diesem wertvollen Augenblick ist der Christus in mir dem Christus in ihm begegnet – wer sonst hätte es sein sollen? Adils Beispiel hat mich dazu bewogen, meine eigenen Reflexe zu hinterfragen. Es hat mir gezeigt, wie viel mehr Fülle in mein Leben einziehen könnte, wenn ich das Risiko einginge, Jesus opferbereit nachzufolgen. Wenn ich es zulasse, wirklich dem Beispiel Jesu zu folgen.
Ich wünsche meinem Freund Adil noch mehr Leben in Fülle, und ich wünsche mir diese Fülle des Lebens für mich selbst. Gehen wir gemeinsam den Weg der Jüngerschaft – im Verlangen nach mehr Lebensfülle. Tun wir es, indem wir uns ganz bewusst einlassen auf diesen radikalen Jesus, der uns zeigt wie das geht.
Veröffentlicht am 22. Juni 2016