Sich trotz allem von John H. Yoders theologischen Gedanken inspirieren lassen
Eine Stellungnahme
John H. Yoder (1927-1997) ist der bekannteste mennonitische Theologe der Gegenwart. Am Theologischen Seminar Bienenberg nehmen wir oft Bezug auf seine Schriften und Überlegungen. Verschiedentlich haben wir auch an Übersetzung und Publikation seiner Bücher in deutscher und französischer Sprache mitgewirkt.
Gerade weil wir seine Schriften schätzen, halten wir eine Stellungnahme auch von unserer Seite für nötig im Hinblick auf eine Reihe von älteren und jüngeren Vorwürfen an die Adresse von John Yoder. Zwischen 1992 und 1996 fand zwischen ihm und seiner Kirche ein gemeinde-disziplinarischer Prozess wegen sexuellen Fehlverhaltens (in Wort und Tat) statt. Dieser Prozess führte dazu, dass die für die Zeit der Untersuchung ausgesprochene Suspendierung von Yoders Lehr-Funktionen kurz vor seinem Tod aufgehoben wurde.
Im Jahr 2014 beauftragte die Mennonite Church USA eine Arbeitsgruppe mit einer erneuten Evaluation der Handlungen Yoders, was (u.a.) im Januar 2015 zur Publikation verschiedener Artikel in der Zeitschrift Mennonite Quarterly Review führte. Aufgrund der neuen Untersuchungen durch diese Arbeitsgruppe wurde bestätigt, dass die Verfehlungen Yoders schwerwiegender waren als zuvor angenommen, dass sie auch verschiedene Aspekte von sexuellen Beziehungen einschlossen und dass mehr Frauen und über längere Zeiträume hinweg davon betroffen waren, als man dies bisher gedacht hatte. In einem Gottesdienst der Klage, des Bekenntnisses und der Verpflichtung (“Service of Lament, Confession and Commitment”) wurde im März 2015 in Elkhart dieser schmerzhaften Ereignisse gedacht.
Wir bezeugen unsere Solidarität mit allen Frauen, die in diese Handlungen nicht eingewilligt hatten und/oder durch sie verletzt worden sind. Wir bezeugen unsere Solidarität mit John Yoders Frau und ihrer Familie.
Wir sind zutiefst traurig und enttäuscht angesichts dieser Vorkommnisse. Wir denken, dass sich John H. Yoder in seiner biblischen Auslegung hinsichtlich der Beziehungen zwischen Frauen und Männern geirrt hat, wenn er u. a. von der Idee einer „nicht-erotischen sexuellen Intimität“ (non-erotic sexual intimacy), die zwischen Männern und Frauen möglich und theologisch legitimierbar sein solle, gesprochen hat. Solche Ansichten und Handlungen sind u.E. unvereinbar mit einer christlichen Ethik von Ehe, Singleness und geschwisterlichen Beziehungen zwischen Brüdern und Schwestern in Christus. Wir glauben, dass er die Integrität etlicher Frauen nicht respektiert hat – im Widerspruch zu dem von ihm selbst hochgehaltenen Grundsatz der Würde eines jeden Menschen. Wir bedauern, dass er die von ihm in zahlreichen Schriften beschriebene Praxis der geschwisterlichen Ermahnung nicht mit allem Ernst auf sich selbst angewandt hat. Hier besteht ein Widerspruch zwischen Theorie und Praxis.
Diese obgenannten schwerwiegenden Tatsachen führen zu Anfragen an den Stellenwert der Theologie John H. Yoders in unserem eigenen Unterrichten: Sollen wir uns weiter auf ihn beziehen ohne eine Wort zu diesen Vorgängen zu sagen? Sollen wir seinen Namen, seine Schriften und seine Ansichten überhaupt nicht mehr erwähnen? Sollen wir uns darauf beschränken, wenigstens seine (nicht publizierten) Texte über Sexualität und über Beziehungen zwischen Männern und Frauen nicht mehr zu verwenden? Sollen wir einfach diejenigen Teile seiner Gedanken in Frage stellen, die in einem Zusammenhang stehen mit den genannten Überzeugungen und Praktiken Yoders? Oder müssen wir bei jeder künftigen Erwähnung Yoders einen warnenden Hinweis mitliefern?
Wir sind übereingekommen, uns wie folgt zu John Yoder und seinen Schriften zu äussern:
Wir werden uns im Unterricht weiterhin gern auf die publizierten Schriften John Yoders beziehen und seine Überzeugungen bekannt machen. Wir werden allerdings noch pointierter als bisher auch kritische Anfragen formulieren. Solch kritische Anfragen haben wir zum Beispiel im Hinblick auf eine Überbewertung des Nonkonformismus, die bisweilen zu Formen des Nonkonformismus führt, die in Widerspruch zu den biblischen Schriften stehen; ferner im Hinblick auf eine bisweilen abgehobene theologische Argumentation, die primär dazu dient, eigene Praktiken unkritisch zu rechtfertigen; und schliesslich im Hinblick auf das Zögern, das Erschweren und sogar die Verweigerung, wenn es darum geht, die geschwisterliche Zurechtweisung auf sich selbst anzuwenden.
Hinzukommt, dass John Yoder in all seinen Schriften die Übereinstimmung zwischen Glaube und Leben betont hat und stets an die hohen Ansprüche und Ideale erinnert hat, zu denen die Gläubigen aufgerufen sind. Die Wirklichkeit des menschlichen Scheiterns lädt einerseits aber auch ein zu Busse und Demut, anderseits zur Abhängigkeit von Gottes Gnade, um durch den Heiligen Geist zu einem Leben gemäss des Evangeliums befähigt zu werden. Auch diese Aspekte wollen wir in unseren Unterricht integrieren.
Zwischen der Verharmlosung der Handlungen einerseits und einer völligen Gleichsetzung der Theologie Yoders mit seinen eigenen Verhaltensweisen anderseits, suchen wir einen guten Weg zu finden. Wir sind der Meinung, dass durch die Geschehnisse nicht Yoders gesamtes theologisches Denken in Mitleidenschaft gezogen und wertlos geworden ist. Wir glauben, dass trotz aller Irrtümer und Verfehlungen von John H. Yoder Gott dessen Schriften weiterhin zum Guten gebrauchen kann – wie dies ja im Falle zahlreicher fehlbarer biblischer Persönlichkeiten und späterer Autorinnen und Autoren ebenfalls gilt.
Aus unserem (europäischen) Blickwinkel, aber auch als Echo auf aktuelle Debatten in Nordamerika, halten wir daher folgendes fest:
Um in Auseinandersetzungen einander gerecht zu werden, braucht es immer das Bemühen, jede Person in ihrem eigenen Denken, Handeln und Kontext wahrzunehmen. Das gilt auch für alle hier direkt Betroffen und in der Auseinandersetzung um Yoder Beteiligten – für Kritisierte und Kritisierende.
Zum Fall, um den es hier geht, kann sich die angeschuldigte Person nicht mehr äussern.
Zudem ist eine Person immer mehr als die Summe ihrer Gedanken und ihrer Taten oder als ein (bestimmter) Teil ihrer Gedanken und ihrer Taten.
Das von einer Person begangene Unrecht und die Leiden ihrer Opfer verstecken oder verschweigen zu wollen geht gleicherweise in die Irre wie übertriebene Pauschalvorwürfe an das gesamte Gedankengut einer beschuldigten Person.
In der Art und Weise, wie die zu Opfern gewordenen Frauen hätten respektiert werden müssen und wie ihnen heute geholfen werden muss, sollte die Goldene Regel (Mt 7,12) als Richtschnur dienen; sie sollte uns auch darin leiten, wie wir uns an eine verstorbene Person erinnern und wie wir die Beziehungen zu deren Angehörigen gestalten.
Die oben beschriebenen Geschehnisse und Enthüllungen müssen auch in christlichen Kreisen zu einer grösseren Wachsamkeit führen im Hinblick auf Fragen des sexuellen Missbrauchs. Sie sollten uns sensibilisieren für Machtspiele und Machtmissbrauchauch in Kirchen und Gemeinden, ganz speziell wenn sie theologisch legitimiert werden. Sie müssen uns aber auch dahin bewegen, die Verantwortung zur gegenseitigen Rechenschaft in allen Bereichen der christlichen Ethik ernst zu nehmen.
Wir sind einerseits traurig und beschämt angesichts der Schwere der begangenen Taten und des erlittenen Leides und anderseits sind wir dankbar für die (zahlreichen und nachhaltigen) Anregungen und Herausforderungen, die John H. Yoder uns Christen – trotz all seiner Verfehlungen – durch seine Schriften vermittelt hat.
Möge Gott uns beistehen, dass wir als wachsam und treu in Christus befunden werden, sowohl in unserer Theologie, als auch in unserem Handeln.
Die Unterrichtenden der französisch- und deutsch-sprachigen Abteilung des Theologischen Seminars Bienenberg / Bildungszentrum Bienenberg:
Lukas Amstutz, Frieder Boller, Heike Geist, Hanspeter Jecker, Denis Kennel, Bernhard Ott, Michel Sommer, Marcus Weiand, Marie-Noëlle Yoder.
Veröffentlicht am 21. Mai 2015 von Frieder Boller