von Riki Neufeld
Das ist wohl eine Frage, die nicht nur ich mir in letzter Zeit gestellt habe. In meinem persönlichen Fall kommt die Frage aber nicht aus einer frustrierten und verletzten Erfahrung mit kirchlicher Gemeinschaft. Auch ist es nicht so, dass ich Kirche schon seit längerem besonders langweilig oder irrelevant gefunden habe.
Als ich noch Teenager war – da erlebte ich dies anders. Ich weiss noch wie es mir irgendwo auf dem Herzen und im Gewissen lag, eine bewusste Entscheidung für die Nachfolge Christi zu treffen. Nur wehrte sich einiges in mir dagegen, besonders weil ich das christliche Leben, welches mir in der Kirche vorgelebt wurde, nicht besonders spannend fand. Und so lautete mein «Bekehrungsgebet» in etwa so: «Jesus, ich möchte dir nachfolgen, aber bitte mach das christliche Leben nicht so langweilig wie es aussieht!»
Ich bin dankbar, dass Gott mir in dem Bereich besonders gnädig gewesen ist, und ich grösstenteils sehr spannende, gute und positiv prägende Erfahrungen in diversen kirchlichen Gemeinschaften machen durfte. Kirche ist für mich ein Ort, wo ich viel Unterstützung bekommen habe, meine Gaben entwickeln und ausleben durfte und auch darin viel Bestätigung erleben durfte.
Diese Frage beschäftigt
Meine Erfahrung unterscheidet sich aber stark von den Erlebnissen vieler meiner Mitmenschen. Wo ich Unterstützung erlebte, da erzählen viele von Enttäuschungen und tiefen Verletzungen. Wo kirchliche Gemeinschaft für mich oft wie ein Zuhause ist, begegnet mir des Öfteren die Frage nach der Relevanz der Kirche in der heutigen westlichen Zeit. Ob sie nun offen ausgesprochen, oder in nagender Art unterschwellig mitmischt – die Frage ist heute kaum mehr wegzudenken.
Fast jede Gemeinde ringt damit, Leute für ihren Vorstand und andere Leitungspositionen zu finden. Besonders junge Erwachsene, die sich für Ämter in den Gemeinden aufstellen lassen sollten, werden oft vermisst. Wenn dann noch die Tatsache berücksichtigt wird, dass so viele Gemeinden prinzipiell mit schwindenden Mitgliedern und Besucherzahlen zu kämpfen haben, stellt sich die Frage: Hat die Kirche überhaupt noch Zukunft? Wenn ja, wie müsste sie sich dann verändern?
Müssen Kirchen sich einfach neu erfinden, anpassen oder brauchen wir als Christen uns erst gar nicht mal Sorgen machen, da Gott seine Kirche noch nie im Stich gelassen hat?
Ein anderer Fokus
Brian McLaren erzählt in seinem Buch «The Great Spiritual Migration» (die grosse geistliche Migration), wie er immer wieder auf Reisen und bei Vorträgen gefragt wird: «Was denken Sie, wie die Kirche der Zukunft aussehen wird?»
Ich habe seine Antworten darauf besonders spannend gefunden. Zum einen äussert er zuerst, dass dies eine recht gefährliche Frage ist. Dahinter kann nämlich die Überlegung stecken, inwiefern man sich verändern muss, damit man heute noch Menschen erreicht und relevant bleibt. Diese Einstellung kann einen starken Anpassungscharakter haben, der auf die Länge eher kräfteraubend ist.
Daraufhin schlägt McLaren eine andere Fragestellung vor: «Was könnte und sollte mit Gottes Hilfe in unseren Kirchen geschehen und wie können wir im Gebet und mit Taten dazu beitragen, um diese Möglichkeit real werden zu lassen?»
Von welcher geistlichen Migration, von welcher Möglichkeit spricht der Autor?
Es geht ihm um die Aussicht, dass Kirchen und Gemeinden zu Schulen oder Studios der Liebe werden.
Es geht darum, die Zielsetzung nochmals neu zu schärfen und daraufhin zu fokussieren, dass Menschen in den Gemeinden Ermutigung, Stärkung und Übungsfelder finden, in der Liebe Christi zu leben.
Wo viele Selbsthilfebücher darauf aus sind, Menschen dabei zu helfen die beste Version ihrer selbst zu werden, schlägt McLaren vor, dass Kirchen (wieder) zu Orten werden, in denen sie Menschen helfen, die liebendste Version ihrer selbst zu werden.
Und so stellen sich die Fragen mit einmal auf eine ganz neue Art und Weise. Was wäre wenn Kirchen zu dem Ort werden, an dem Menschen lernen aus der tiefen Liebe des Herzens heraus zu leben? Dann würden sie nicht primär irgendwelche Glaubensüberzeugungen weitergeben, die man ja auch alleine für sich zusammenbasteln könnte, sondern sie wären die Gemeinschaften, die es braucht, um solche Liebe zu erlernen.
Was wäre wenn
Was wäre, wenn man diese Liebe nicht einfach nur als Sentimentalität verstehen würde? Dann wäre die Liebe ein «Einüben» von ganz praktischen Lebenseinstellungen wie Freundlichkeit, Dankbarkeit, Anerkennung der eigenen Schwächen und Verfehlungen, das Ausdrücken von Verletzungen und Enttäuschungen, einander konfrontieren und vergeben, um Hilfe bitten, unterschiedliche Bedürfnisse aushandeln, Grenzen setzen, Ja und Nein sagen zu können, die Wahrheit in Liebe auszudrücken und noch einiges mehr.
Das Spannende an Mclaren’s Aussagen ist die Tatsache, dass diese Vision der Kirche in ganz unterschiedlichen Formen eingeübt werden kann. Dies kann durchaus in traditionellen Formaten gelebt werden, aber es schafft auch die Möglichkeit in ganz alternativen Formen Kirche neu zu denken. Entscheidend ist zum einen, dass die Kirche eine Gemeinschaft ist, wo diese Liebe eingeübt wird und zum anderen, dass es Rituale gibt, in welchen die Priorität der Liebe eingebettet ist.
Das könnte den verschiedenen Elementen des sogenannten Gottesdienstes – oder dessen was passiert, wenn die Teilnehmer der Gemeinschaft zusammenkommen – einen ganz besonderen Geschmack geben.
Das «Willkommenheissen», die Gebete, die Lieder, Predigten und Aussendungen – alles wäre darauf ausgerichtet, die Teilnehmer zur Liebe hin zuzurüsten.
Ich bin oft neugierig, welches genau die Rituale sind, die uns darin kräftigen, so in der Liebe Gottes zu leben.
Deshalb freue ich mich, im Mai für sechs Tage nach Berlin fahren zu können, um dort einige Gemeinschaften und ihre Rituale kennenzulernen, die mit dem Anliegen unterwegs sind, die Liebe in alternativen Formen kirchlicher Gemeinschaft auszuleben. Gerne nehme ich auch noch weitere interessierte Personen auf diese Learningtour mit.
Riki Neufeld