Ich bin dann mal weg

von Lukas Amstutz (erstmals erschienen im Bienenberg Magazin, Juni 2023)

Corona hat einiges verändert. Auch in Kirchen und Gemeinden. Vor allem in Gottesdiensten fällt vielerorts auf: Sonntags sind weniger Leute da als vor der Pandemie. Es scheint, als habe es Corona Menschen leichter gemacht, einfach mal weg zu bleiben. Ursachenforschung und Lösungsvorschläge bieten dazu viel Diskussionsstoff. Dieser Artikel will vor allem eine Gesprächsanregung sein.

Es ist sicher eine der bekanntesten Geschichten aus der Bibel: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32). Je nach Auslegung wird es auch als Gleichnis der beiden verlorenen Söhne oder als Gleichnis des barmherzigen Vaters genannt. Ich setze hier noch einen weiteren Akzent und konzentriere mich auf die Beziehung der beiden Söhne, die im Gleichnis nur am Rande angedeutet wird. Die beiden Söhne begegnen sich nie direkt, es findet kein Gespräch, nicht einmal ein Streit, zwischen den beiden statt.

Zwei unterschiedliche Söhne

Der jüngere Sohn nimmt sich die Freiheit und verlässt sein Elternhaus und die damit verbundenen Verpflichtungen: Tschüss – ich bin dann mal weg. Der ältere Sohn dagegen bleibt und hilft mit, den Betrieb zu bewirtschaften. Ob aus Überzeugung oder Pflichtgefühl wissen wir nicht.

Die beiden Söhne gehen verschiedene Wege und leben das Leben auf ihre je eigene Weise. Spannungsvoll wird die Beziehung der beiden spätestens dann, als der jüngere Sohn zurückkehrt. Es ist ja rührend, wie dieser sich an sein Daheim erinnert und dort vom Vater herzlich empfangen wird. Aber es ist doch so, dass dieser Sohn nur zurückkehren kann, weil es dieses Zuhause überhaupt noch gibt. Und vermutlich hat der ältere Sohn dazu massgeblich beigetragen.

Freiheit und Verantwortung

Die einen sind mal weg – die anderen sorgen dafür, dass der Betrieb weiterläuft.

Diese Situation und die damit verbundenen Emotionen werden in ganz unterschiedlichen Bereichen unserer Gesellschaft wahrgenommen. Ganz generell lässt sich beobachten, dass Menschen in ihrem Leben ihrer individuellen Freiheit einen grossen Stellenwert einräumen. Und das betrifft längst nicht nur die jüngere Generation.

Individuelle Freiheit bedeutet: Ich kann möglichst spontan entscheiden, was ich in meinem Leben tue und was nicht. Ich kann entscheiden, ob ich jetzt gerade mal weg bin oder daheimbleibe. Diese individuelle Freiheit schätzen wir alle. Wir können diese Freiheit aber nur leben, wenn wir nicht zu viele, nicht zu verantwortungsvolle und vor allem nicht zu langfristige Verpflichtungen eingehen, da diese unsere Freiheit naturgemäss einschränken.

Individuelle Freiheit und gemeinschaftliche Verantwortung stehen damit in einer gewissen Spannung. Das merken wir in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen. Ich nenne hier nur einige:

In Firmen und Institutionen tragen Menschen manchmal seit Jahren viel Verantwortung. Sie müssen damit leben, dass viele Mitarbeitende nicht mehr bereit sind, sich in gleicher Weise mit dem Betrieb zu identifizieren. Viele können mit grosser Leichtigkeit sagen: Ich bin dann mal weg – was aus dem Betrieb und denen, die bleiben, wird, scheint ihnen egal zu sein.

In vielen Beziehungen sind wir heute nicht mehr auf Gedeih und Verderben aufeinander angewiesen. Wir sind daher vermutlich viel schneller bereit zu sagen: Ich bin dann mal weg.

Vielen Vereinen droht das Aus. Das wird dann zwar häufig bedauert, aber es gibt einfach zu wenig Menschen, die bereit sind, die Arbeit zu tun, die für das Weiterleben nötig wäre.

Auch viele Kirchen und Gemeinden sind mit diesen Entwicklungen konfrontiert. Ein «Ehrenamt» ist schon lange nicht mehr mit erstrebenswerter Ehre verbunden. Manchmal scheint es, dass sich engagiert, wer einfach nicht «Nein» sagen kann.

Pilger und Herberge

Es geht an dieser Stelle nicht darum, diese Entwicklungen einzeln zu bewerten. Festhalten will ich lediglich, dass es Spannungen gibt, wenn die Einen sagen «Ich bin dann mal weg», und die Anderen «Ich muss alles alleine machen».

Ich verwende dazu gerne das Bild von Pilgern und Herbergen. Pilgern ist seit einigen Jahren populär. Auf dem Weg zu sein, von Ort und zu Ort, mal alleine, mal in einer Gruppe. Viele Pilger schätzen auf ihrem Weg die Pilgerherbergen als Orte, an denen sie einkehren, essen und schlafen können. Es sind Orte der Gastfreundschaft. Pilgern wäre kaum möglich – oder zumindest nicht dasselbe – wenn alle nur noch pilgern und niemand mehr die Herbergen betreiben würde.

Dieses Bild lässt sich auf die Kirche übertragen. Viele Menschen verstehen heute ihren Glauben, ihre Spiritualität, als eine Art Pilgerreise, die sie individuell gestalten. Der Gottesdienst und das Gemeindeleben haben dabei eine Art «Herberge-Funktion» - es ist schön, wenn man da wieder einmal einkehren kann. Ein Ort zum Auftanken, wenn mir danach ist. Die Frage, die sich jedoch stellt: Wer betreibt diese Herberge? Wer sorgt dafür, dass es Kirche – Gemeinde – (noch) gibt?

Wir sollten reden

Viele Gemeinden leben, weil sich immer noch sehr viele Menschen engagieren. Vor allem Projekte vermögen immer wieder Mitarbeitende zu mobilisieren. Schwieriger ist es, Mitarbeitende für längerfristige Leitungsdienste zu finden: Gemeinde- und Teamleitungen, Dienste mit einem relativ hohen zeitlichen Aufwand und grösserer Verantwortung.

Für diese Entwicklungen gibt es unterschiedliche Gründe. Die Ursachenforschung interessiert mich an dieser Stelle jedoch nicht. Spannend fände ich es, wenn in Anlehnung an das Gleichnis die älteren und jüngeren «Söhne» bzw. «Töchter» miteinander ins Gespräch kommen könnten. Ich versuche hier einen Anfang zu machen, der gerne aufgenommen und weitergeführt werden darf.

Fragen an die Daheimgebliebenen

Ich wende mich zunächst an jene, die sich mit dem älteren Sohn identifizieren können. Euch gehört zunächst ein grosses Dankeschön. Viele engagieren sich seit Jahren mit grossem Engagement. Ihr investiert Stunden, Tage – vieles bleibt dabei unsichtbar. Ihr lebt mit Kritik, hört was «man» alles noch machen müsste. Ihr erlebt Schönes, aber auch Frust. Danke dafür!

  • Lasst mich euch auch einige Fragen stellen:

  • Was löst es bei euch aus, wenn Andere eure Anfragen zur Mitarbeit relativ leicht absagen?

  • Was motiviert euch das zu tun, was ihr tut? Berufung, Pflichtgefühl, Nicht-Loslassen-Können?

  • Wie redet ihr über euren Dienst? Was strahlt ihr aus? Ist da etwas von Lust und Freude zu verspüren? Oder ist dies alles Last?

  • Sucht ihr Mitarbeitende, die alles so machen, wie ihr es tut oder haben bei euch auch neue Ideen Platz?

Fragen an die, die mal weg sind

Damit zu jenen, die sich eher im jüngeren Sohn sehen. Es ist völlig in Ordnung, wenn ihr weggeht, um an einem anderen Ort heimisch zu werden. Ihr werdet zu Hause fehlen, aber die meisten können auch loslassen.

Mit den folgenden Fragen richte ich mich vor allem an jene, die das Gemeindeleben vor allem aus der Ferne verfolgen:

  • Warum hast du dich entschieden, derzeit eher mal weg zu sein? Ist es Neugier, mal Neues und Anderes zu entdecken? Inwiefern könnten deine Erfahrungen auch in der bisherigen «Herberge» für frischen Wind sorgen?

  • Bist du derzeit mal weg, weil du frustriert oder unzufrieden bist? Was würdest du dir denn wünschen? Wie könntest du dies kommunizieren?

  • Bist du mal weg, weil dies im Moment sich gerade bequem anfühlt? Hast du dir schon mal überlegt, wie sich dies für die anfühlt, die sich stark engagieren?

  • Was würde dir fehlen, wenn es deine Gemeinde nicht mehr gibt, weil die Herberge niemand mehr betreibt?

Im Gleichnis wird uns nicht erzählt, ob die Brüder über ihre Vergangenheit und Zukunft gesprochen haben. Wir sollten das tun. Zumindest so lange, wie die, die weg sind, damit liebäugeln, irgendeinmal wieder zurückzukommen. Da könnte sich ein lehrreiches Gespräch darüber ergeben, was Gemeinde ist und in Zukunft sein soll. Da muss – ja darf – längst nicht alles bleiben, wie es ist. Aber Gemeinden sind und bleiben immer Menschen. Wenn alle denken: «Ich bin dann mal weg – und komme später wieder», könnte es sein, dass auf einmal niemand mehr da ist, weil die Daheimgebliebenen aufgegeben haben. Mir scheint es daher lohnend, miteinander nach Wegen zu suchen, wie Gemeinden auch in Zukunft Herbergen sind, in denen Menschen nach Hause kommen – zu Gott und zueinander.