Gerechtigkeit wiederherstellen - in der Schule und darüber hinaus

Gerechtigkeit wiederherstellen – in der Schule und darüber hinaus

Bei manchen sind schon Sommerferien, andere warten noch darauf. Endlich hat die Schule Pause. Schüler und Lehrer atmen auf. Die meisten jedenfalls. Die Eltern dagegen fragen sich: Wie sollen wir diese langen Wochen überleben?! 

Schüler- und Lehrersein kann sehr anstrengend sein. Es gibt sonderbare Lehrer und es gibt herausfordernde Schüler. Schüler, die im Unterricht wetten, ob einer sich traut, das gerade ausgeteilte Arbeitsblatt in einen Papierflieger zu verwandeln und aus dem Fenster fliegen zu lassen. Lehrer, die einem Kind eine Strafarbeit aufbrummen, dann aber dem Kind noch eine Chance geben und mit ihm Schere-Stein-Papier um die Strafarbeit spielen. 

Überall dort, wo Menschen zusammenleben, gibt es Regeln – geschrieben oder ungeschrieben. Und dort, wo es Regeln gibt, gibt es Regelübertretungen. Wer in der Feuerwehrzufahrt parkt, der bekommt einen Strafzettel. Wer jemanden überfällt und ausraubt, der kommt ins Gefängnis. Wer in der Schule zu spät kommt muss nachsitzen. Für Regelübertretungen gibt es Konsequenzen.

Der Falschparker ärgert sich dann über den Strafzettel und denkt sich: Ich war doch nur 10 Minuten weg. Wer geblitzt wurde beschwert sich, weil er oder sie die 10 Stundenkilometer wirklich nicht dramatisch findet. Egal! Regel übertreten, erwischt worden, Strafe bekommen. Das ist geltendes Recht. Das ist Gesetz.

Was allerdings aus dem Blick gerät, ist der Grund, warum die Regeln aufgestellt wurden und welche Auswirkungen die Regelübertretung auf andere Menschen haben kann. Im Strafrecht ist das die Frage nach dem Opfer. Wie kann der Schaden wieder gut gemacht werden? Allerdings konzentriert sich alles auf den Täter: Der ganze Gerichtsprozess, die Klärung der Schuld und die Bestimmung des Strafmasses. Die Frage, welche Bedürfnisse das Opfer hat und inwiefern der Täter Dinge wieder gut machen kann, tritt in den Hintergrund.

Seit vielen Jahrzehnten versucht eine Bewegung hier gegenzusteuern[1]. Gerechtigkeit bestehe nicht in erster Linie daraus, Übertretungen zu bestrafen, sondern verletzte Beziehungen wiederherzustellen. Restorative Justice, eine wiederherstellende Gerechtigkeit rückt ins Zentrum. Einer der Väter dieser Bewegung, Howard Zehr[2], mennonitischer Theologe aus den USA, begründet diesen Ansatz theologsich: Es ist Gottes Ziel, zerbrochene Beziehungen wiederherzustellen. Gott schliesst einen Bund mit den Menschen, damit diese wieder so leben, wie Gott es sich von Anfang an vorgestellt hat. Ein Leben in Frieden. Der hebräische Begriff für Frieden, Schalom, bedeutet, dass Dinge so sind, wie sie sein sollen. Das beinhaltet körperliches Wohlbefinden. Eine intakte Beziehung zu den Mitmenschen und zu Gott. Im Frieden mit der Schöpfung leben und Frieden als eine integere Persönlichkeit. Sprich, es ist alles im Frieden.

Ron und Roxanne Claassen, die im letzten Jahr Gastdozenten auf dem Bienenberg waren, haben das aus dem Strafrecht kommende Konzept der Resotrative Justice für den Schulbereich detailliert weiterentwickelt. Nicht, weil Schulen Gefängnissen so ähnlich sind (obwohl vielleicht mancher Schüler das so sehen würde). Sondern weil es hier auch um Regeln und Regelbruch geht. Und weil in der Schule auch ganz schnell nur der Regelbruch im Vordergrund steht und nicht mehr die Menschen mit ihren Bedürfnissen. Wer Regeln übertritt schadet anderen. Und dafür soll der Schüler Verantwortung übernehmen. „Discipline that Restores“ nennen Claassens ihr Programm.

Dabei stehen drei Fragen im Zentrum: 

  1. Wer wurde verletzt und wie?
  2. Welche Bedürfnisse sind (beim Opfer) entstanden?
  3. Wer ist verantwortlich für die Wiedergutmachung?

Ein Beispiel
Ein Schüler flutet die Schultoiletten. Abflüsse verstopft und Wasserhahn aufgedreht. 
Jetzt werden die drei Fragen gestellt:

1.    Wer wurde verletzt oder geschädigt? Und wie? 
Der Hausmeister musste den ganzen Nachmittag mit Aufräumarbeiten verbringen. Ein materieller Schaden ist glücklicherweise nicht entstanden. 

2.    Welche Bedürfnisse sind entstanden? 
Dem Hausmeister fehlt die Zeit für andere wichtige Dinge. Er könnte Unterstützung gut gebrauchen.

3.    Wer ist verantwortlich? 
Der Schüler wird nun vom Hausmeister für einen Nachmittag eingespannt um bei seiner Arbeit zu helfen. 

Die Bedürfnisse des Geschädigten stehen im Mittelpunkt. Gleichzeitig wird der Täter zur Verantwortung gezogen – nicht nur im Sinne einer Strafe, die er verdient, sondern um den Schaden wiedergutzumachen. Nicht die Strafe für den Täter bringt alles wieder in Ordnung, sondern dass der Täter soweit irgend möglich den Schaden wiedergutgemacht. 

Dahinter steht der Gedanke, Frieden herzustellen. Es ist Gottes Schalom, auf das sich Disziplinierungsmassnahmen ausrichten. In der Bibel sehen wir, dass Gott sich auf die Seite der Armen und Unterdrückten stellt, Menschen, die Opfer geworden sind. Gleichzeitig ruft er die Unterdrücker zur Umkehr auf, sie sollen ihre Verantwortung gegenüber den Unterdrückten wahrnehmen. Nur so kommen Beziehungen in Ordnung. So kann eine Gesellschaft in Frieden leben.

Claassens haben Restorative Justice vom Gefängnis in die Schulen gebracht. Vielleicht gelingt es ja, die Philosophie von der Schule in die Familien zu bringen. Bei uns zu Hause werden die Sommerferien sicher schön, aber nicht ohne Auseinandersetzungen vorbeigehen – vermute ich. Wie wäre es, wenn wir eine Brille aufsetzen, bei der es um Wiederherstellung geht? Unsere Kinder und wir selbst (!) übernehmen Verantwortung für Beziehungen, denen wir geschadet haben. Nicht: Strafe und damit ist alles abgegolten. Stattdessen: Menschen sind es wert, Verantwortung zu übernehmen – so weit wie irgend möglich. 

„So weit wie irgend möglich“ heisst aber auch: Wir werden es oft nicht schaffen, etwas zu 100% wiedergutzumachen. Hier sind wir auf Gnade und Vergebung angewiesen. Gott sei Dank, dass wir durch Jesus Vergebung haben und dass wir einander vergeben dürfen.

Und so wünsche ich allen Leserinnen und Lesern Gottes Schalom und fröhliche Sommerwochen.

Marcus Weiand

 

Weiterführende Links:
Video-Interview mit Ron und Roxanne Claassen (in Englisch): 3 Videos

 

 

[1]In der Schweiz leitet Claudia Christen mit dem Swiss Restorative Justice Forum eine erfolgreiche Arbeit in Gefängnissen (https://www.swissrjforum.ch/deutsch/auftrag.html).

[2]http://zehr-institute.org/staff/howard-zehr/