von Dennis Thielmann (erstmals erschienen im Bienenberg Magazin, Juni 2023)
Eine kritische Auseinandersetzung mit der Tempelmetapher im musikalischen Lobpreis
«Wir kommen im Lobpreis nun in Gottes Gegenwart» – so oder ähnlich hört man es Lobpreisleitende oft am Anfang einer Lobpreiszeit im Gottesdienst sagen. Dieses Narrativ und die Erwartung einer Begegnung des Menschen mit dem Göttlichen im gottesdienstlichen Musikerlebnis ist in der Lobpreisszene weitverbreitet. Es prägt nicht nur Liedtexte, sondern auch die praktische Inszenierung und den Ablauf dieses emotional hochdosierten Musikrituals.
Begründet wurde und wird ein solches Lobpreisverständnis, ausgehend von den ersten «Praise & Worship» Pionieren der 80er und 90er Jahre aus dem englischsprachigen Raum bis hin zur gegenwärtigen deutschsprachigen Lobpreisszene, immer wieder mit dem Verweis auf die Logik der alttestamentlichen Tempelzeremonien.
Laut dieser Annahme dient das architektonische Raumprogramm des alttestamentlichen Tempels, und die damit verbundenen priesterlichen Abläufe und Zeremonien, nicht nur als liturgisches und dramaturgisches Gerüst einer Lobpreiszeit. Analog zu damals, geht es im «Worship-Geschehen» auch darum, sich auf eine Art spirituell-mystischen «Reise» einzulassen, damit es letztlich zu einer innerlichen Begegnung vor «Gottes Thron» im «Allerheiligsten» kommen kann.
Dabei können Songs, Klänge, das Bühnen-Setup und die damit verbundenen Emotionen im gottesdienstlichen Geschehen ein gewisses sakrales, fast sakramentales Gewicht bekommen. Das Musikerlebnis wird zum Gotteserlebnis. Mit dem Psalmvers «Gott wohnt im Lobpreis seines Volkes» (Ps 22,4) wird dieses Anbetungsverständnis an vielen Orten biblisch untermauert.
Diese Grundannahme, dass Musik als Medium zur Begegnung mit dem «Jenseits» dient, bringt meines Erachtens einige problematische Aspekte bzw. mögliche Verengungen für Glaube und Spiritualität mit sich.
EIN DUALISTISCHES WELTBILD?
Braucht es (diesen) Lobpreis, um Gott zu begegnen? Wenn eine gottesdienstliche Praxis suggeriert, dass man durch sie (gewissermassen prioritär) Zugang zum «Heiligen» und zu den «himmlischen Sphären» erlangen könne, stellt sich die Frage, ob damit nicht eine Art dualistisches Weltbild geprägt und vermittelt wird. Von einem dualistischen Weltbild kann laut dem Theologen und Kulturforscher Paul G. Hiebert dann gesprochen werden, wenn in der Wirklichkeitsauffassung zwischen einem «profanen/weltlichen» und einem «sakralen/heiligen» Bereich stark getrennt wird. Wo unterschieden wird, zwischen Natürlich und Übernatürlich, Wissenschaft und Religion, Fakten und Glauben, Naturgesetze und Wunder, Körper und Geist, Erde und Himmel, Alltag und Gottesdienst. Das «Geistliche» wird dann im Bereich des Unsichtbaren und «Übernatürlichen» verortet. Das «Natürliche», alles was mit den Sinnen erfasst werden kann, gilt in Folge eher als «profan», «weltlich» oder weniger «christlich».
In einem solchen dualistischen Denksystem wird es im Gottesdienstgeschehen dann folgerichtig darum gehen müssen, mittels eines bestimmten Ritus oder einer Zeremonie aus den irdischen Sphären in das «Geistliche» vorzudringen, eine Erfahrung mit der Transzendenz zu machen, und im besten Fall auch Gunst für das eigene Wohlergehen bei Gott zu erlangen. Diese Tendenz zu einem eher sakral-kultischen Gottesdienstverständnis ist im Laufe der Geschichte des Christentums immer wieder zu erkennen. In der Bibel gibt es jedoch tragfähige Indizien dafür, dass aus christlicher Sicht weder ein solch dualistisches Weltbild noch ein sakral-kultisches Gottesdienstverständnis tragbar sind.
«Als käme es darauf an, einmal in der Woche für eine oder zwei ‚heilige‘ Stunden zusammenzukommen, um dann Gott zu dienen. Solche Gottesdienste finden in ‚heiligen‘ Räumen, auf ‚heiligem‘ Boden statt. Sie werden von ‚heiligen‘ Leuten geleitet und es werden ‚heilige‘ Zeremonien dargeboten. Solches Denken ist zwar sehr religiös, aber wenig biblisch. Für Gottes Volk soll das ganze Leben ‚heilig‘ sein, nicht nur einige Stunden. Das ganze Volk ist ‚heilig‘ und nicht nur einige Priester. Alle Handlungen des Alltags sollen ‚heilig‘ sein und nicht nur gewisse religiöse Riten. Gerade um dieses ‚heilige‘ Alltagsleben geht es Jahwe.» (Bernhard Ott)
AUFBRUCH ZU EINER INTEGRATIVEN SPIRITUALITÄT
Interessanterweise werden auch im Neuen Testament Begriffe und Konzepte des alttestamentlichen Tempelgottesdienstes aufgegriffen. Jetzt aber bewusst nicht mehr als Bezeichnung oder Beschreibung der gottesdienstlichen Versammlungen der ersten Christinnen und Christen, sondern vielmehr werden tempelnahe Begriffe auf die gesamte Weite des Lebens metaphorisch umgedeutet (Röm 12,12; 15,7; 1. Kor 3,16; Eph 2,20–22; Hebr 3,6; 13,16; Jak 1,26). Damit werden der menschliche Körper, der Zusammenhalt in der Gemeinschaft und letztendlich die gesamte Lebensführung als «Tempel» und Begegnungsorte mit dem Göttlichen verstanden. Dies bewirkt einen radikalen Paradigmenwechsel sowohl im Gottesdienstverständnis als auch in weltanschaulichen Fragen.
«Die biblische Sichtweise fordert uns auf, die Dualismen von Natürlich und Übernatürlich, von Prozess und Wunder, von Körper und Seele, von Heilig und Weltlich, von Evangelisation und sozialem Engagement zurückzuweisen. Sie ruft uns dazu auf, alles als Gottes Wirken zu sehen. [...] Für Gott ist alles natürlich, für uns ist alles wundervoll. [...] Dieser Wandel ruft uns auch dazu auf, die spirituelle Dimension der Schöpfung ernst zu nehmen.»
(frei übersetzt nach Paul G. Hiebert)
In einem christlich-integrativen Weltbild geht man davon aus, dass so, wie der Atem alle Lebewesen durchströmt, Gottes heilige Geistkraft den ganzen Kosmos mit Leben und Geist durchflutet (Walter Wink). Die christliche Tradition kennt von Anfang an eine solche kosmische Mystik bzw. Schöpfungsspiritualität. «Gott in allen Dingen suchen und finden», schreibt der Mystiker Ignatius von Loyola. Dieses Mindset kann meines Erachtens als Ergänzung oder Korrektiv für eine mögliche Verengung im Worship-Verständnis dienen. Gott wohnt dann nicht nur im Lobpreis. Die Musik im Gottesdienst muss weder eine Kluft zwischen Himmel und Erde überbrücken noch Gottes Geist herbeisingen. Vielmehr brauchen wir Rituale und gottesdienstliche Praktiken, die uns helfen, achtsamer und sensibler für Gottes Geistkraft zu werden, die uns in allen Lebensbereichen und -facetten begegnen mag.
«Gebet besteht nicht in dem Bemühen, Gott zu erreichen, sondern darin, unsere Augen zu öffnen und zu erkennen, dass wir schon bei ihm sind.»
(Mönch und Mystiker Thomas Merton)
Dieser Artikel erscheint in ausführlicher Form im neuen Buch «10.000 Gründe für Lobpreis»
Weiter vertieft werden diese Themen zudem im Online-Kurs «Transforming Worship»