Glaubenswert
von Lukas Amstutz
«Die Zahl der Kirchenaustritte ist sprunghaft angestiegen!» Solche Schlagzeilen waren in diesem Jahr sowohl in Deutschland als auch der Schweiz mehrfach zu lesen. Erfasst hat die Austrittswelle jüngst neben den evangelischen auch die römisch-katholische Kirche. Alles nur ein Problem der grossen Volkskirchen?
Ich glaube nicht.
Was steckt hinter dem rasanten Mitgliederschwund in den Kirchen? Diese Frage versuchen derzeit verschiedene Studien zu beantworten. Konkret wird ein Kirchenaustritt, so zeigen Befragungen, meist aufgrund eines aktuellen Anlasses: Die Rechnung für die Kirchensteuer, ein persönlich enttäuschendes Erlebnis mit der Kirche oder skandalöse Enthüllungen wie etwa die Missbrauchsfälle. Allerdings sind solche Anlässe häufig «nur» der eine Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Menschen, die aus der Kirche austreten, haben in der Regel bereits einen längeren Entfremdungsprozess hinter sich. Persönliche Erfahrungen, wissenschaftliche Erkenntnisse oder gesellschaftliche Entwicklungen lassen sie an traditionellen Glaubensaussagen zweifeln. Anderen fällt es zunehmend schwer, sich mit der Institution Kirche und ihren Strukturen zu identifizieren. Der Austritt ist dann der letzte Schritt auf dem Weg dieser leisen Entfremdung.
Solche Entwicklungen gibt es natürlich nicht bloss in den Volkskirchen. Auch in Freikirchen entfremden sich Menschen von ihrem bisherigen Glauben und verabschieden sich von ihrer Gemeinde. Das gab es schon immer. Ein neueres Phänomen ist allerdings, dass zunehmend Stimmen laut werden, die in solchen Entfremdungsprozessen eine Chance sehen, neu zu entdecken, was sich als glaubenswert erweist. Diese Stimmen werden meist als progressiv oder post-evangelikal bezeichnet. Gemeinsam ist ihnen eine tiefe Unruhe über traditionell-(frei)kirchliche Glaubensinhalte und –formen. Vor allem die folgenden Punkte stehen dabei besonders im Fokus:
Die Bibel und ihre Auslegung
Post-Evangelikale beschäftigt die Unterschiedlichkeit biblischer Texte mit ihren teils spannungsvollen Aussagen. Einsichten der Bibelwissenschaften helfen ihnen, die Texte in ihrem Kontext zu lesen und ihre Weisheit in moderne Lebenswelten zu übersetzen.
Ganzheitliches Evangelium
Post-Evangelikale sorgen sich nicht primär um das «Seelenheil», sondern erwarten, dass die gute Nachricht vom Reich Gottes bereits heute zu einem christlichen Lebensstil anstiftet, der auch soziale und ökologische Gerechtigkeit umfasst.
Das Verhältnis zur «Welt»
Post-Evangelikale erleben, dass auch ausserhalb der Kirchen viel Gutes geschieht. Sie erkennen darin das Wirken Gottes und sind bereit, Wege des Miteinanders zu suchen, die ein friedliches Zusammenleben fördern.
Gemeinschaft vor Strukturen
Post-Evangelikale pflegen neue Formen von Gemeinschaften, die Gruppenzugehörigkeit mit Flexibilität, Authentizität, Respekt vor der persönlichen Individualität und Platz für Scheitern zu verbinden suchen.
Glaubwürdiges Christsein
Post-Evangelikale scheuen sich nicht, Fragen und Zweifel offen zu formulieren. Schnellen und einfachen Antworten misstrauen sie. Sie ziehen es vor, mit gewissen Spannungen und Brüchen zu leben, anstatt eine christliche Doppelmoral zu leben.
Die Liebe Gottes als Hauptantrieb
Post-Evangelikale lassen sich von der Liebe Gottes motivieren, ihren Glauben mit anderen zu teilen. In dieser Liebe sehen sie auch ihre Offenheit gegenüber anderen Lebensentwürfen und –formen begründet.
Diese Entwicklungen sind nicht abgeschlossen und werden kontrovers diskutiert und beurteilt. Wichtig ist, dass es Räume gibt, in denen post-evangelikale Anfragen ehrlich und fair zur Sprache kommen. Ansonsten schleichen Post-Evangelikale früher oder später auf leisen Sohlen aus den Kirchen.
Interessanterweise stossen Post-Evangelikale bei ihrer Glaubenssuche immer wieder auf Ansätze täuferischer Theologie. Sie entdecken hier Wege, die jenseits manch klassischer Grabenkämpfe zwischen «konservativ» und «liberal» verlaufen. Als täuferisch-friedenskirchliches Bildungszentrum beteiligen wir uns daher an dieser post-evangelikalen Auseinandersetzung über das, was glaubenswert ist und bleibt. Wir verstehen dies als Beitrag dazu, dass Entfremdungsprozesse nicht zwangsläufig im Verlassen von Glaube und Gemeinde enden.
Dieser Aktikel ist im “Bienenberg Magazin - Winter/Frühling 2020” erschienen.