1. Johannes, ISIS, das Evangelium und der Terror
Alice Su schloss 2013 ihr Studium in Nah-Ost-Studien in Princeton ab und lebt seither in Aman, Jordanien, wo sie mit Flüchtlingen arbeitet und als freie Journalistin tätig ist. Sie bezeichnet sich als grossen Jesus-Fan und sagt, dass sie langsam lernt, wie sie das in einem interreligiösen und internationalen Kontext leben kann. Am 3. September schrieb sie in einem Blog: http://gospelworldview.wordpress.com/2014/09/03/1-john-isis-and-the-gospel-versus-terror/
(Übersetzung mit Genehmigung, Bildungszentrum Bienenberg)
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1. JOHANNES, ISIS, DAS EVANGELIUM UND DER TERROR
Denn das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt:
Wir sollen einander lieben und nicht wie Kain handeln, der von dem Bösen stammte und seinen Bruder erschlug. Warum hat er ihn erschlagen? Weil seine Taten böse, die Taten seines Bruders aber gerecht waren. Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod. Jeder, der seinen Bruder hasst, ist ein Mörder und ihr wisst: Kein Mörder hat ewiges Leben, das in ihm bleibt. 1 Jo 3,11-12, 14-15
Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick? Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn! Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn. Gen4,6-8
In der letzten Zeit war ich sehr verängstigt. Ich denke oft an den Tod von James Foley, Steven Sotloff und vieler anderer Journalisten und Millionen von Kindern, Frauen, Vätern, guten Freunden, Onkeln und Nachbarn in Syrien, Gaza, Irak, Ägypten, Sudan und sonst wo. Ich werde das Gefühl nicht los, dass um die Ecke der Tod lauert, an der Haustür von Journalisten, der Zivilbevölkerung, bei zu vielen Leuten die mir lieb geworden sind wie auch bei Tausenden, denen ich noch nicht begegnet bin.
Alle die ich kenne sind gezeichnet. Einige bluten. Hass und Angst liegen in der Luft und es wird immer schlimmer.
Wie reagieren Christen auf den Terrorismus? Meine Kirche schwankt in ihrer Antwort. "Liebe deine Feinde und bete für die, die dich verfolgen."
OK! Wirklich?
Was wenn ich Iraki, Syrer oder Palästinenser wäre? Was wenn ein Islamischer Staat meinen Vater kreuzigen würde? Was wenn eine israelische Bombe meine Familie in Stücke reissen würde? Was wenn alle die ich liebe von einer chemischen Waffe getroffen würden? Ich treffe eine Person nach der anderen, die so etwas wirklich erlebt hat. Was soll ich ihnen denn sagen? Ich schreibe ihre Geschichte auf. Ich weine. Ich könnte kotzen. Ich wende mich an Gott.
Vor ein paar Wochen berichtete ich aus dem Libanon. Ich lief durch palästinensische und syrische Flüchtlingslager, wo Menschen wie Hunde behandelt werden, trank dort Tee mit den würdevollsten und mutigsten Familien, die mir je begegnet sind und fürchte, sie werden den nächsten Monat nicht überleben. Ich hörte die Geschichte von Menschen, die sie in den letzen Jahren, Monaten und Tagen verloren haben und füllte mein Notizbuch mit Kummer.
Zuhause angekommen betete ich voller Zorn, weil ich mir so winzig vorkam. Die Welt ist so dunkel und ich kann nichts dagegen tun. Ich habe keine Macht.
Ich kann schreiben. Was sonst noch? Warum bin ich so schwach? Warum kann ich meine Freunde nicht retten? Was kann ich ihnen denn geben?
"Liebes, du hast das Evangelium", kam mir in den Sinn. Ich: "Wofür soll das gut sein?"
Liebe Freunde, helft mir es herauszufinden.
Was ist das Evangelium? Wofür ist es gut? Was bedeutet es, meinen Freunden gegenüber Jesus Christus zu bezeugen, wenn seine Botschaft nicht verspricht die realen Verhältnisse zu verändern? Hier ist Jesus. Aber du bist immer noch ein Flüchtling. Dein Land brennt weiterhin. Deine Tochter ist immer noch krank. Du hast kein Geld für die medizinische Behandlung. Sie wird sterben. Dein Vater ist schon gestorben. Und morgen wirst du selbst vielleicht umgebracht.
Hier ist Jesus. Was verspricht er? Wer ist er? Was tut er?
In diesen Tagen lese ich viel in der Bibel. Je mehr ich lese, desto radikaler erscheint sie mir. Sie sagt: Gott hat die Welt geschaffen und liebt seine Kinder, aber die haben sich gegen ihn gewandt. Sie wollten nicht glauben, dass er sie liebt und wollten selbst die Herrschaft übernehmen. Als das passierte ging alles schief. Seine Kinder begannen zu hassen, sich zu ängstigen und zu töten. Sie tun anderen weh. Sie tun sich selbst weh. Und Gott tut es weh das zu sehen. Er bat seine Kinder zuzuhören, umzukehren, aber sie taten es nicht.
So kam Gott in die Welt. Jesus war ein von Gott gestalteter Mensch, der ein lebendiges Beispiel gab, um uns vor uns selbst zu retten. Er starb. Er gab sein Leben hin, obwohl er unschuldig war, und bezahlte, damit die ganze Menschheit ewiges Leben finde. So zu leben bedeutet mit Gott zu leben, und das bringt eine totale Veränderung mit sich, weil es bedeutet in Liebe statt in Hass und Angst zu leben.
Liebe statt Hass oder Angst
Liebe: das ist Selbsthingabe, an andere mehr zu denken als an sich selbst, seine Lebenskraft und sein Leben hinzugeben für das Wohlergehen derer, die uns nach dem Leben trachten.
Liebe: das ist sich dem Hass zu verweigern. Niemanden und nichts zu fürchten ausser Gott. Nach Gerechtigkeit schreien, sie aber Gottes Händen überlassen.
Liebe bedeutet, unser kurzes und ungesichertes Leben in völliger Demut zu leben, denen die uns hassen nachzugeben und sie zu segnen.
Daran haben wir die Liebe erkannt, dass Er sein Leben für uns hingegeben hat. So müssen auch wir für die Brüder das Leben hingeben. Wenn jemand Vermögen hat und sein Herz vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Gottesliebe in ihm bleiben? Meine Kinder, wir wollen nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit. 1Jo 3,16-18
Diese Sprache der Liebe klingt so vertraut, warm und samtig. Ich sah sie schon auf gemütlichen frommen Kissen eingestickt, auf Grusskarten gestaltet und in tausend Sonntagspredigten verbreitet.
Da sitze ich und schaue ein Video an, das Mitmenschen nur wenige Stunden entfernt von hier aufgenommen haben. Ein Mann in einem orangefarbenen Overall kniet auf dem Boden neben einem Vermummten, der seinen Bruder dazu zwingt Sätze zu sagen, die er gar nicht meint. Er fordert grosse Weltmächte zur Verhaltensänderung auf und schreit "Es ist unfair, ich bin ein Opfer, du bist böse, ich bin gut, ich bestrafe dich jetzt" und dann schneidet der Vermummte seinem Bruder den Kopf ab.
Ich denke an Kain und Abel.
Ich denke an Jesus.
Ich denke, Christsein bedeutet ich sollte mein Leben für diesen vermummten Mann lassen. Ich denke, das ist doch sinnlos.
Ich lese weiter in der Bibel.
Als seine Begleiter merkten, was (ihm) drohte, fragten sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? Und einer von ihnen schlug auf den Diener des Hohepriesters ein und hieb ihm das rechte Ohr ab. Jesus aber sagte: Hört auf damit! Und er berührte das Ohr und heilte den Mann.
Lukas 22:29-51
Jesus starb für Kain und Abel, Adam und Eva, Isaak und Ismael, David und Saul, Journalisten und Extremisten, Christen und Muslime, Juden und Heiden, für die Kranken und die völlig Kranken, für alle.
Das Evangelium empfinde ich in der letzten Zeit als schockierende und verrückte Botschaft. Wenn du Christus beim Wort nimmst sagt er: "Gib dein Leben hin für deinen Bruder. Leg dein Leben dem hin, der dich töten will. Kämpfe nicht gegen ihn. Lauf nicht weg. Segne, diene und gib".
Jesus zufolge ist das der Weg zum ewigen Leben.
"Aber ich könnte sterben", denke ich.
"Ja - gib dein Leben hin und werde wiedergeboren", sagt Christus.
Ich: "Nein, aber wie, ich könnte wirklich sterben."
Christus: "Sterben wirst du sowieso. Es ist OK."
Ich: "Nein! Das werde ich nicht. Wer sagt, dass ich sterben werde? Wer sagt, dass der Tod Fakt ist?" Christus: "Schau dich um."
Während ich bete wächst in mir die Überzeugung: Gott ist für uns und nicht gegen uns. Die Welt brennt, aber nur weil wir gegen uns selbst sind. Sich Gott ergeben bedeutet Opferbereitschaft, kein Jihad, kein Kampf, unsere Feinde - Muslime, Juden und Ungläubige- nicht anzugreifen und statt dessen begreifen: Gott ist wichtiger als mein Leben.
Fundamentalisten denken genauso, aber Christus zieht andere Schlussfolgerungen. Wenn Gott wichtiger ist als mein Leben, dann sterbe ich. Ich gebe mein ganzes Leben wie er es getan hat. Er gab es nicht als Krieger, sondern als Lamm. Er bekämpfte niemand.
Wir sollen niemanden bekämpfen. Wir sollen unser ganzes Leben für die Brüder und Schwestern hingeben, damit sie sich nicht allein gelassen fühlen, damit sie Hoffnung schöpfen.
So gehen wir beharrlich in die Dunkelheit hinein, um Menschen an die Hand zu nehmen und ihnen zu sagen "Wir haben einen Vater. Der liebt uns. Der ist gut."
Ich würde das für völlig verrückt halten, wäre ich hier nicht Christen begegnet die das leben - unerschütterlich fest und ohne Angst und in Demut. Ich sitze zusammen mit Brüdern und Schwestern aus dem Sudan, Syrien, dem Irak. Um sie herum brach alles zusammen und ihre Familien attackierten sie, als sie sich entschieden Christus nachzufolgen. Und ich wundere mich, warum sie nicht weglaufen. "Gott sei Dank, ich werde wieder zurück gehen", sagen sie.
Ich bin so schnell verängstigt. Gefahren machen mir Angst. Ich fürchte zu sterben. Ich habe Angst verfolgt zu werden, weil ich Amerikanerin, Christin oder Journalistin bin. Ich habe Angst vor dem Terror.
Meine Brüder und Schwestern strahlen und sind voller Frieden. Ich möchte sie zurück halten. Ich habe Angst um sie, sie könnten heute, morgen oder übermorgen verletzt oder getötet werden. Sie aber lachen und legen mir die Hand auf die Schulter: "Schwester, meine Familie braucht Hoffnung."
"Wie bitte, deine Familie - die dich töten will?"
"Schwester, meine Leute sitzen in der Falle. Sie können nicht weg. Sie brauchen Hoffnung, und wir haben die einzig wahre Hoffnung. Wir müssen hingehen und ihnen dienen."
Meine palästinensischen Brüder sagen mir, dass sie nicht aufhören werden, für alle ihre Nachbarn zu beten - Muslime, Juden Christen, ob radikal oder nicht, Zionisten oder Hamas, selbst wenn sie von der einen Seite zugebombt und von der anderen Seite ins Visier genommen werden. Sie sagen mir, Jesus folgen bedeutet, für das Wohl des Nachbarn zu leiden. Und zu den Nachbarn gehören alle, egal ob sie dich hassen oder lieben.
Meine koptischen Freunde in Ägypten erzählen, jemand wollte ihre Kirchen niederbrennen. "Aber wir werden keine Waffen in die Hand nehmen um sie zu bekämpfen."
Meine irakische Schwester sagt: "Ich gehe zurück. Ja, die ISIS ist dort, weshalb die Leute dort Angst haben. Alle sind verzweifelt. Unsere Welt brennt. Deshalb brauchen wir Christus. Und deshalb gehe ich."
Furcht gibt es in der Liebe nicht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht. Denn die Furcht rechnet mit Strafe(,) und wer sich fürchtet, dessen Liebe ist nicht vollendet. Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat. 1 Joh 4,18-19
Ich überlege, warum ich so zögerlich bin, im Namen Jesu zu reden.
Auf der einen Seite sorge ich mich zu viel um meinen Ruf. Ich möchte nicht mit engstirnigen Christen und den Institutionen in Verbindung gebracht werden, die Jahrhunderte hindurch so viel Hass und Scheinheiligkeit verbreitet haben.
Ich möchte nicht verurteilt werden. Ich fürchte um mein Image, meine Karriere, und meine angebliche Objektivität.
Andererseits denke ich zu viel an mich selbst und nicht genug an Christus. Wenn ich wirklich an ihn denke, dann sagt er "Schau mich an".
Und ich sehe hin. Ich blinzle.
Schier geblendet bin ich.
Ich bin ergriffen. Ich falle auf meine Knie.
Ich denke: das ist zu strahlend hell um wahr zu sein, das ist zu viel um es zu fassen, zu tief und zu glutvoll - ich bin völlig ausser mir.
Ich schaue.
Er sagt: "Jeder Mensch ist dein Bruder. Liebe sie. Gib dein Leben für sie hin. So wie ich es getan habe. Ich liebe dich so sehr. Ich bin für dich da, ich bin nicht gegen dich. Dein Leben ist in meinen Händen."
Ich glaube.
Allen Widrigkeiten zum Trotz glaube ich.
Meine Schwestern und Brüder sehe ich vorwärts gehen und ich bete "Herr, gib mir das Vertrauen um sie zu begleiten." Ich sehe sie vorwärts gehen wie Schafe zur Schlachtbank. Ich bete "Herr gib mir die Gnade und den Mut, genauso zu handeln."
Das Evangelium enthält eine Einladung zum Sterben - nicht um jemand zu Boden zu zwingen, sondern um aufzurichten. Um unser Leben in Frieden aufopferungsvoll und in geschwisterlicher Liebe hinzugeben.
Das ist nicht normal.
Es ist äusserst gefährlich und es durchkreuzt alle meine selbstgerechten Neigungen. Aber so ist Christus. Und wir lieben ihn so, weil er uns zuerst geliebt hat.
Wenn wir das sehen und begreifen und schmecken, dann gehen wir voller Freude vorwärts. Wir gehen in dem Strom lebendigen Wassers, der von ihm in und durch uns fliesst. Zu allen Jahreszeiten wachsen da Bäume mit Früchten zur Heilung der Völker.
Wir sind so lebendig! Selbst wenn wir morgen sterben würden. Wir leben im Licht.
Wir haben keine Angst.