Wie viel Bescheidenheit darf’s denn sein?
von Eric Braun (erstmals erschienen als Editorial im Bienenberg Magazin, Juni 2023)
Von Durchsetzungsgelüsten, zwei Liedern, einem Weizenfeld und mehr Bescheidenheit.
In der grossen Halle nimmt der Sound der Band richtig Fahrt auf. Die meisten Kongressteilnehmer:innen singen mit. Christen wie du und ich, aus vielen unterschiedlichen Kirchen. Tausende singen jetzt: «Gott, du bist grösser, du bist stärker … und steht Gott uns zur Seite, wer kann uns jemals hindern, … wer kann uns widerstehen». Ich kenne dieses Lied gut. Habe ich es doch vor ein paar Jahren auf meiner Playlist gerne gehört. Damals hatte es etwas Tröstliches. Heute ist für mich die Sehnsucht, an Gottes Macht und Überlegenheit teilzuhaben, fremd geworden.
Szenenwechsel.
In den sozialen Medien läuft wieder einmal ein Schlagabtausch. Auf der einen Seite stehen Christenmenschen, die sich gegen kirchliche und gesellschaftliche Ausgrenzung von homosexuellen und queeren Menschen stark machen. Auf der anderen Seite Gläubige, die genau darin den Untergang des noch übrig gebliebenen christlichen Abendlandes sehen. Mit absoluter Gewissheit wissen die einen, dass Gott dies nicht ungestraft lassen wird. Alle Hebel müssen in Bewegung gesetzt werden, mächtige Bündnisse geschmiedet, mächtige Personen gewählt, die das mit Macht durchsetzen können … Die Polarisierung nimmt Fahrt auf. Sind die Gespräche bereits beendet? Geht’s nur noch darum, wer mehr Druck machen kann?
Szenenwechsel.
Ich bin in einem Gottesdienst zu Besuch. In der Begrüssung heisst es, wir sollen «den Lobpreis geniessen». Ich bin gespannt. Ich mag moderne Band-Musik. Das zweite Lied ist neu für mich: «Wenn der Feind mir gegenübersteht, ich rufe Halleluja! … als Waffe, singe ich nur für dich … der Himmel kommt und kämpft für mich … lauter und lauter wird dieses Lied zu hören sein … der König regiert … die Finsternis wird vor mir fliehen … sing ein bisschen lauter, so laut bis jeder Zweifel geht …». Ich bin komplett verwirrt, singen kann ich das nicht. Klingt so angemessene Ehrerbietung Gottes? Gottes Lob als Waffe, damit ich siege, damit ich die lästigen Zweifel loswerde? Auch das nächste Lied verstärkt bei mir den Eindruck, dass immer mehr neue Worshipsongs, die gesamte Welt nur als Gut-gegen-Böse-Krieg darstellen. Und wir sind immer die Guten. Macht, König, Herrscher, siegen, kämpfen, Feind - und immer ist dem anbetenden Christenmenschen der Triumph gewiss. Später im Gottesdienst werden Bibelstellen auf Ukrainisch eingeblendet, für die Geflüchteten unter uns. Wie haben sich wohl die Lieder für sie angehört?
Szenenwechsel.
In den sozialen Medien läuft derweilen der «Kampf» unter freikirchlichen Christ:innen weiter. Infragestellungen aus den eigenen Reihen sind nicht gut für den Burgfrieden. Verrat am Glauben, an Christus und der Bibel wird gewittert. Gibt man hier nach, bricht der ganze Damm. Ein weiser Zeitgenosse stellt in der Diskussion bescheiden die Frage: «Können wir einander den Glauben noch glauben?»
Letzter Szenenwechsel.
Da ist diese Geschichte über ein Weizenfeld. Nachts schleicht sich ein Feind auf das Feld und streut Unkraut zwischen den Weizen. Als den Arbeitern das lästige Unkraut auffällt, holen sie den Chef. Woher kommt das Unkraut, wollen sie wissen und ob sie ihm den Garaus machen können. Ganz zu ihrem Erstaunen, will der Besitzer das Unkraut bis zum Erntetag wachsen lassen, um den Weizen zu schützen. Die Geschichte kann bei Matthäus nachgelesen werden (Matth. 13,24-43). In der Erklärung von Jesus, die Matthäus nachliefert, sind es die Engel - nicht die Menschen -, die erst am Ende das Unkraut ausreissen und den guten Weizen ernten.
Es ist schwer «Unkraut» zu sehen und es nicht ausreissen zu dürfen. Da muss ich mich zurücknehmen können, bescheidener werden. Wer von uns liegt schon immer richtig? Hat nicht Jesus einmal gesagt: «Wer von euch ohne «Unkraut» ist, werfe den ersten Stein.»?
Steine weglegen und miteinander ein Bier trinken und bescheidener weiter streiten; ohne einander das Unkraut auszureissen, das wünsche ich mir. Und dazu wollen die Artikel und unsere Bildungsangebote in diesem Magazin einladen. Du bist herzlich willkommen!